Geschichten aus der Straßenbahn - 1. Episode: Pinkelbecken?



Irgendwann in den frühen 1990er Jahren zog ich erneut um. Dieses Mal von der Bremer Neustadt nach Delmenhorst - Heidkrug, einem Ortsteil der niedersächsischen Stadt, die gemeinhin als Schlafstadt vor der benachbarten Teil des Bundeslandes Bremen gilt. Da mein Büro nach wie vor in Bremen - Hastedt blieb, ich mir aber die elenden Staus und den stockenden Verkehr ab den frühen Morgenstunden ersparen wollte, kaufte ich mir ab 1994 eine so genannte " Bremer Karte ", ein Monatsfahrschein für sämtliche Linien der Bremer Straßenbahn AG. Damit konnte ich auf sämtlichen Linien innerhalb der Stadtgemeinde Bremen sowie mit der Bundesbahn bis Delmenhorst - Heidkrug fahren.

Was ein Fahrgast da so alles an Erlebnissen aufweisen kann, lässt sich durchaus in einem Buch fest halten. Da ich beinahe 10 Jahre Gast der bremischen Verkehrsbetriebe war, sind mir natürlich nicht alle Geschichten in Erinnerung geblieben. Dennoch werde ich versuchen, die eine oder andere Kuriosität in meinem Blog zu verewigen.

In den ersten Jahren meiner Abenteuer mit der Bremer Straßenbahn AG ( BSAG ) fuhr diese mit alten, klapperigen Fahrzeugen. Diese hatte eine ockergelbe Farbe, quietschten, rumpelten und knarrten auf den schon arg mitgenommen Gleisbetten. Die Rumpelkisten fuhren auch auf der Linie zwei, die ich vom Domshof aus in Richtung meines Büros in Hastedt nahm.
Die Haltestelle liegt hier direkt an der Hauptpost.

In den Morgenstunden waren die Züge, die aus einem Triebwagen und einem dahinter gezogenen Anhänger bestanden, zumeist rappelvoll. Nach und nach leerte sich die Bahn, weil viele Fahrgäste an den Haltestellen des so genannten Viertel ( Steintor / Ostertor ) ausstiegen. Ab der Haltestelle " St. Jürgen - Straße ", an der auch die Linien 3 und 10 zu erreichen sind, waren häufig nur eine handvoll Personen in dem Zug.

Ab diesem Zeitpunkt öffnete ich zumeist meinen Pilotenkoffer, in dem sich die bearbeiteten Akten vom Vorabend befanden, zog die aktuelle Ausgabe des " SPIEGEL " heraus und las bis zum Ausstieg an der " Malerstraße ".
Dabei kam es schon vor, dass ich diese Haltestelle verpasste, weil ich in meiner Lektüre vertieft war und nicht rechtzeitig aufstand, um  den Halteknopf zu drücken. Der Straßenbahnfahrer setzte danach die Fahrt fort, ohne anzuhalten. Andere Fahrer wiederum stoppten an jeder vorgesehenen
Haltestelle.

Wenn ich den Ausstieg an der "Malerstraße " versäumt hatte, musste ich bis zur " Föhrenstraße " weiter fahren. Von dort aus - es sind vielleicht 500 Meter - ging ich dann zu Fuß zurück zum Büro.
Während der Sommermonate oder der wärmeren Jahreszeiten war dieser Fußweg eher eine angenehme und nützlichen Nebenerscheinung, denn ich erhielt zum Ausgleich für die nur sitzende Tätigkeit, wenigstens ein bisschen Bewegung. Obwohl ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite die Haltestelle der Linien 2 und 10 hätte nehmen können, um zurückzufahren, zog ich es vor, den Fußgängerweg zu nutzen. So schleppte ich den Pilotenkoffer voller Akten bis zur " Hastedter Heerstraße " 164, ins dortige Büro. Eigentlich war ich froh, nicht eine weitere Fahrt mit diesen hässlichen Rumpelkisten der BSAG machen zu müssen.

Diese blieb mir allerdings mindestens noch ein weiteres Mal, nämlich für den Heimweg, leider nicht erspart. An einigen Tagen musste ich zudem die klappernden, betagten Züge auch bei Gerichtsterminen nutzen. Ob diese nun am Amtsgericht oder vor dem gegenüber liegenden Landgericht anberaumt waren, blieb dabei unerheblich. Bis zur " Domsheide ", die an den beiden Gerichtsgebäuden angrenzte, musste ich dabei sowohl die Linie 2 als auch die 10 nehmen. Eine alternative Strecke bis dorthin, bot sich aber mit der Linie 3, deren Endhaltestelle sich am " Weserwehr " befindet und die ich damalsüber den "Alten Postweg " erreichen konnte. So ging ich einst deshalb über die Oesselmannstraße, die sich zirka 50 Meter auf der stadtauswärtigen Seite des Büros befindet, in Richtung des Streckenbeginns am " Weserwehr " in Richtung " Alten Postweg ", bog linker Hand in zu der damals noch bestehenden Postdienststelle ab und stieg einige Dutzend Meter danach in einen wartenden Zug der Linie 3 ein.

Dieser brachte mich dann über die Haltestellen " Auf der Hohwisch ", " Georg - Bitter - Straße ", Stader / Hamburger Straße ", Nienburger Straße ",  " Weserstadion " zu dem Knotenpunkt " St. Jürgen Straße ", Von dort aus fahren die Straßenbahnen über das Steintorviertel in Richtung " Domsheide ", also der Innenstadt. Hier befanden sich zur damaligen Zeit, und dieses schön verteilt, die übrigen Gerichtsgebäude, wie das Sozial - und Landessozialgericht  an der " Contrescarpe ", das Verwaltung - und Oberverwaltungsgericht " Am Wall " sowie " Osterdeich ". Nur das Arbeitsgericht war etwas weiter vom Stadtkern, nämlich an der " Findorffstraße " belegen; während sich das Landesarbeitsgericht wiederum an der " Contrescarpe " befand.

Da die Freie und Hansestadt Bremen durchaus überschaubar ist, konnte ein Rechtsschaffender und Rechtssuchender als Freiberufler diese Adressen schnelle lernen, wenn er in Lohn und Brot bleiben wollte. Dann gibt es natürlich auch noch die Bundesland eigene Champions League, nämlich die beiden höchsten Gerichte der Hansestadt Bremen. Dieses sind der Staatsgerichtshof, der vormals " Am Wall " residierte und zwar in dem Gebäude des Verwaltungsgerichts sowie das Hanseatische Oberlandesgericht, dass damals in der " Sögestraße " die Räumlichkeiten unterhielt.
Inzwischen sind sämtliche Fachgerichte in dem " Fachgerichtszentrum ", das sich " Am Wall 198 " befindet eingegliedert worden.

Nun,ja, damals mussten eben einige Wege in Kauf genommen werden, um das Recht zu beackern, dass sich nicht allzu selten vor der Tür eines Sitzungssaals -  auch einem Rechtskundigen - völlig verschloss. Die bequemste Art, die Damen und Herren Kollegen von damals aufzusuchen, waren aber eben die Fahrten mit den Rumpelkisten der BSAG.

Dieses galt natürlich auch für die Heimfahrten, die ich dann nach Büroschluss vornehmen musste, um mit den Linien 2, 3 oder 10 bis zur " Domsheide " und dann - bei der " 2 " und der " 3 " durch Umsteigen bis zum Hauptbahnhof zu gelangen.

Vor allem für die Linien galt vormals ein unbeschriebenes Gebot, an das sich eben Vielfahrer tunlichst halten sollten. Nach Einbruch der Dunkelheit oder auch bei Fahrten nach 20.00 Uhr, niemals in den angehängten Wagen des Zugs einsteigen. Hier kann der durchschnittlich Lebende, der Prototyp des vormals Mühsam und Beladene so allerlei unliebsame Überraschungen erleben.

An einem Spätherbsttag in den frühen 1990er Jahren stand ich an dem Haltepunkt " Malerstraße " und wartete auf einen Zug der benannten Linien. Es war bereits unangenehm kühl, nein, eher nass - kalt, so richtiges Bremer " Schmuddelwetter " eben. Irgendwie fühlte ich mich völlig groggy, von der elenden Klopperei mit den vielen Asylrechtsfällen, den undankbaren Familienrechtsstreitereien oder den zivilrechtlichen Kleinkram, rund um das liebe Mietrecht, wie erschlagen. Ich muss wohl so abwesend gewesen sein, dass ich nicht bemerkte, wie der Zug an die Haltestelle " Malerstraße " heran schepperte. Eigentlich hätte mich das notorisch schrille Quietschen der abgetakelten Bremsen des " Fleisch - Container " im ockerfarbenen Anstrich, der so aus den späten 1960er Jahren stammte, wach rütteln müssen. Doch: Nichts da. Ich stand ein wenig apathisch in dem Blech - und Glasunterstand ( es mag auch sein, dass es diesen zu jener Zeit noch gar nicht gab ) und wartete. Ich hoffte vielleicht, dass alsbald finanziell bessere Zeiten anbrechen könnten. Ein wohlhabender Mandant meine Feld - Wald - und Wiesen - Kanzlei aufsucht und ein massives erbrechtliches Problem erklärt, dass sich dann - nach Maßgabe der einstigen Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung ( BRAGO ) - in klingende Münze umwandelt.

Doch auch diese Hoffnung trog. Denn die Realität sah so aus, wie das, was ich nach dem Stopp des BSAG - Gefährts erlebte. Ich stieg, nein, ich wollte in den Hauptwagen einsteigen. Zumindest unternahm ich den Versuch dazu. Weil der Fahrer seine Gurke etwas zu weit hinter dem Haltehäuschen ( oder der Stelle, an der ich gerade stand ) abgebremst und zum Stehen gebracht hatte, musste ich die letzte Tür des Triebwagens nehmen. Die öffnete sich alsdann und ein Schwall schwatzender Fahrgäste ergoss sich auf den Gehsteig. Es wurden zudem immer mehr.
Es musste wohl ein Kegelklub oder sonst ein solch geselliger Spießertreff mit alten, runzeligen, ergrauten Bremerinnen und Bremer gewesen sein, der sich vor mir aufbaute. Ich bekam Panik.
Der Zug, die Straßenbahn, sie fährt gleich wieder ohne mich los.

So entschloss ich mich, in einer Art Kurzschlussreaktion, in den hinteren Wagen einzusteigen. Das erschien mir in diesem Moment sicherer, als die Vorstellung, bei dem Bremer " Schmuddelwetter " ,mit voll gepackten Pilotenkoffer noch weitere 8 bis 10 Minuten auf den folgenden Wagen warten zu müssen und zudem auch noch unter diesen widrigen Umständen an der " Domsheide " in die " 10 " zum Hauptbahnhof umsteigen zu müssen.
Also: Rein in die schlechte Stube.

Ich nahm unmittelbar hinter der ersten Tür des zweiten Wagens Platz. Es war ein so genannter " Zweier ". Ich ließ meine beiden Schlösser des Koffers aufschnappen und zog den " SPIEGEL " aus dem schwarzen, bleischweren Unikum hervor. Dann las ich den Artikel zu Ende, den ich vor zirka 10 Stunden begonnen hatte. Die Bahn rumpelte, holperte und ächzte los. Die nächste Haltestelle " Ludwig - Quidde - Straße " folgte. Der BSAG - Zug stoppte nach zirka 2 Minuten. Die Türen klappten knallend auf. Dann stieg eine Gruppe Jugendlicher ein. Sie war in typischen Outfit bekleidet. Dass hieß bei " Schmuddelwetter " logischer Weise: Regenjacke. Einer der sich laut unterhaltenden Kerle trug einen oliv - grünen Parka. So einen, den ich auch aus meiner " wilden " Zeit ab Beginn der 1970er Jahre hatte. Dieser war allerdings schmuddelig, abgewetzt und einfach siffig. So, wie der Typ, der das längst als mega - out angesehen Textil trug, auch.

Ein herunter gekommener, aber noch sehr junger Mann, der sich mit seinen anderen zwei oder drei Freunden an den letzten Plätzen breit machen wollte, stand beim Anfahren der Klapperkiste der BSAG immer noch breitbeinig vor dem Heckbereich des zweiten Wagens. Die anderen Knilche hatten sich, dazu laut unterhaltend, bereits hingesetzt, als der knarrende Zug der Linie 10 los fuhr. Dann sah ich etwas, dass mir mir einen Würgereiz hätte hervorrufen können, wäre mein Magen, der nur mit zwei Wurststullen zu Mittag und einem Stück Mohnkuchen aus der Bäckerei - Filiale von nebenan, gefüllt worden war, nicht fast leer gewesen.

Der Zosse riss seinen Parka hoch, knöpfte seine Jeans auf und holte seinen Dödel heraus. Sofort ergoss sich, von einem plätschernden Geräusch begleitet, ein enormer Strahl aus dem offen gezeigten Schlauch. Der Urinstrahl klatschte gegen die unteren Bereiche des Heckaufbaus und bildete, eine riesige Lache, die dann - einer Anakonda gleich -  in Richtung Tür und dort wohl die beiden Stufen herunter mäanderte.

" Diese Drecks...... ", dachte ich so bei mir. " Der schifft da einfach so hin. Die arme Putzfrau !"
Dann zog er, seinen Oimel in die Hose steckend, diese wieder zu und setzte sich auf einen der Sitze. Seine - vermutlich besoffenen - Kumpel hatten die " Pissaktion " zwar registriert, erwähnten diese aber mit keiner Silbe. Als sei es das Selbstverständlichste auf diesem Planeten, in diesem Land, dieser Stadt, der Freie und Hansestadt Bremen, dass man ( Mann ) sein Noturft in einem Wagen der BSAG erledigt.
Angewidert von dem " Pisser ", drehte ich meinen Kopf leicht wieder in Richtung meiner Lektüre. " Diese S......etc.! ", so ließen mich jene Verwünschungen für den Kerl und seine frevlerische Tat
bis zur " Domsheide " nicht ruhen.

Die Bagage indes, stieg im Viertel aus und entschwand im Getümmel der dort hin und her flanierenden Menschen - im Schutz der Dunkelheit eines nass - kalten Herbsttages in Bremen. Ich sah weder den urinierenden Kerl, noch einen seiner Kumpel je wieder. Sie gehörten zu dem Szene - Bodensatz, der dann und wann auch außerhalb des Bahnhofsgeländes, des Ostertor und des Steintorviertels auftauchte, um den eigenen Lebensfrust anderswo abzulassen.

Als Armenanwalt bin ich ja bereits vorher so einiges an menschlichen Abgründen gewohnt gewesen, aber die Straßenbahn als Urinal zu missbrauchen, das war auch mir zu jenem Zeitpunkt vollkommen neu. Immerhin versuchte ich nach jener Pinkelaktion zukünftig nicht mehr den angehängten Wagon der Bahn zu nutzen. Es war mir für alle Zeiten eine heilsame Lehre gewesen.


" Blodwyn Pig " - " Drive Me " - " A Modern Alchemist " - 1997:




" Blodwyn Pig " - " Serenade To A Cuckoo " - 1994:




 











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