Zuggespräche über die Leere der Lehre oder: Was hat sich eigentlich seit 1969 geändert?


Weil der Winter hier noch einmal eingezogen ist ( er hatte sich ja schon vorher angemeldet ) sind zurzeit die Züge der Deutsche Bahn noch voller als sonst. So mancher Radler, motorisierte Zweiradfahrer oder PKW - Besitzer zieht es doch lieber vor, das vermeintlich sicherere Verkehrsmittel zu nutzen, um von Dresden nach Freiberg, Chemnitz oder Zwickau zu gelangen. Darunter natürlich wieder viele Studiosi. Deren oft selbstdarstellerische Dauergespräche mittels Smartphone und Co. sind meistens kaum zu ertragen. Nun, ja, im Zeitalter der Massenkommunikationsmittel besteht die Gefahr, an der digitale Demenz zu erkranken, eben nicht nur in den eigenen Vier Wänden.
Da bietet denn ein intensiver Dialog zwischen zwei Auszubildenden au der gegenüber platzierten Sitzbank eine wahrhaftige Erholung.

Und weil das Gespräch nicht nur im gemäßigten Ton stattfand, sondern zunehmend dem wahren Leben sehr nahe kam, lauschte denn meine bessere Hälfte ein wenig, als einer der beiden Auszubildenden von seinem Leidensweg berichtete.
Er hatte zunächst eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann aufgenommen und diese nach 3 Jahren mit der Gehilfenprüfung abgeschlossen. Dann kam das böse Erwachen. der Bruttoverdienst in den ersten Jahren lag bei ca. 1300 EURO , was einem Nettoentgelt von etwas 800  Euro entsprach. Ein typischer Fall von trotz Arbeit arm. Der Mann musste deshalb durch HARTZ IV - Leistungen aufstocken. Die Firma ging in die Insolvenz. Das warś für den gelernten Einzelhandelskaufmannsgehilfen!

Er begann deshalb eine weitere Lehre als Tischler. Nach der Hälfte der Ausbildungszeit erlitt er einen Arbeitsunfall, erkrankte über einen längeren Zeitraum und erhielt die Kündigung durch den Betriebsinhaber. Er klagte erfolgreich vor dem Arbeitsgericht und musste wieder eingestellt werden. Der Chef indes war nicht begeistert und prophezeite ihm, dass er nur noch vor der Werkbank stehen würde. Daraufhin wechselte er den Betrieb und setzte seine Ausbildung fort.

Nun, ein Fall unter Zehntausenden. Nichts besonderes eigentlich, hätte der Auszubildende - inzwischen 25 Jahre alt und Vater eines Kindes - nicht von den Umständen während seiner Ausbildung erzählt.
Da der Einzelhandel, der im ersten Ausbildungsjahr eine Vergütung von sage und schreibe 283 Euro ( Ost ) gewährt, die sich dann bis zum 3. Ausbildungsjahr auf sensationelle 343 Euro steigert, hier der Kleinbetrieb mit Tischlermeister und vielleicht zwei, drei oder vier Gesellen. Eine Klitsche, die um das täglich Überleben kämpft und keine dauerhaft kranken Lehrlinge gebrauchen kann, weil deren Arbeitskraft ja billiger ist.

So oder so ähnlich sieht die Realität auf dem Berufsausbildungssektor im Jahr 2013 aus.

Bei der Schilderung  hat  der Auszubildende, der sich nun nebenbei noch als ebay - Powerseller versucht, um ein wenig mehr Geld in die Schatulle zu erhalten, wahrlich nicht übertrieben.



Mir kamen Gedanke an meine eigene Lehrzeit bei der Hermann Altenburg KG in Bückeburg. An die Fahrradfahrten von Bad Eilsen nach Bückeburg. An die Leerzeit vom 1. April 1969 bis 31. März 1972. Die mickrige Ausbildungsvergütung von 90, 120, 150 und zuletzt 180 / 210 DM. Die Arbeitszeiten von 8.00 Uhr bis 13.00 Uhr und von 14.00 Uhr bis 18.00 Uhr sowie Samstag von 8.00 Uhr bis 13.00 Uhr. Dazwischen die Berufsschule von 8.00 Uhr bis 15.00 Uhr und von 8.00 Uhr bis 12.30 Uhr. Im 14tägigen Turnus gab es dann einen Tag arbeitsfrei. Dennoch: Die 35 Stunden - Woche war nahezu Utopie.

So hieß es denn ab dem 1. April des Jahres 1969: Um 20 vor 7 aufstehen, waschen, anziehen, frühstücken, los fahren. Zunächst freudig pfeifend und singend, radelnd durch Klein Eilsen, auf der B83 fahrend (
http://de.wikipedia.org/wiki/Bundesstra%C3%9Fe_83) nach Bückeburg.Der einstigen Residenzstadt des Fürsten zu Schaumburg - Lippe. Dort, wo vormals der Handel blühte, dort, wo eben viele Handwerksbetriebe, kleinere, allenfalls mittelständische Unternehmen angesiedelt hatten, dort, wo die Wirtschaft prosperierte. Dort gab es genügend Lehrstellen, da beinahe jeder Betrieb ausbildete. Goldene Zeiten also - auf dem Papier, den Statistiken und den politischen Schönfärbereien zu jener Zeit.


Hier durchlief ich das erste Ausbildungsjahr bei der Hermann Altenburg KG, einem alt eingesessen Groß - und Einzelhandelsunternehmen, das Eisenwaren, Sanitär und Haushaltsartikel vertrieb, im Lager.Das bedeutete, Hilfsarbeiten verrichten und bei der Erledigung der Kommissionen mit anfassen.
Danach verlagerte sich der Mittelpunkt meines Tätigkeitsumfeld in den Verkaufsraum, der ein halbes Stockwerk über dem Lager lag.An den Lehrinhalten indes änderte sich nur durch die Schule etwas.
So, wie es der Auszubildende im Zug schilderte und wie es mir weiter gegeben wurde, so hatte ich die Lehrzeit, die oft nur als Leerzeit empfand, auch in Erinnerung.
Mir fiel das Lied von Hannes Wader ein: " So was gibt es noch ", klar, doch, so was wird es immer geben:

Nach acht Jahren Schule konfirmiert, stand ich da mit meinem Zeugnis: Zeichnen, Singen, Religion gut.Mutter wollte gern, dass ich Schriftsetzer würde wie mein Opa, war aber nichts zu machen: zu viele Bewerber mit Abitur Vater war mehr für Maurer oder Tischler. Aber ich, klein und blass vom vielen Lesen jede Nacht, heimlich bei Kerzenlicht, Gedanken immer woanders und dann auf dem Bau, das ging eben nicht. Doch ich bekam eine Lehrstelle in einem Schuhgeschäft als Schaufenstergestalter.

Das ist doch ewig lange her,
ist vergessen, das war mal,
das gibt's heut nicht mehr.
So sollte man meinen und doch:
So was gibt es noch.
So was gibt es noch.

Erstes Schuljahr: vierzig Mark im Monat. Tagesablauf wie folgt: morgens um sieben zum Bus. Brote, Henkelmann in der Aktentasche und Ermahnungen: »Ernst des Lebens - Lehrjahre sind keine ...« und so weiter. Dann in der Firma Pampelmusen, Teebeutel, Joghurt einkaufen für die Kollegen zum Frühstück. Dann Ware auspacken, ins Lager einräumen, Etiketten kleben, dann Glühbirnen auswechseln - Mittagspause. Dann in den Schaufenstern Schuhe, Glasplatten abstauben, dann in den Keller, Arbeitsstiefel fetten. Neunzehn Uhr - Feierabend.

Das ist doch ewig lange her ...

Zweites Lehrjahr, 60 Mark im Monat, Tagesablauf genau wie im ersten. Nur alle vierzehn Tage Nachtarbeit. Dafür durften wir abends warm essen, auf Geschäftskosten. Ich bekam das erste Steak meines Lebens mit vierzehn. Einmal setzte sich der Chef zu uns und bestellte sich ein Mettbrötchen und erzählte, wie er angefangen hat mit einem Bauchladen, Schürsenkel. Durch Fleiß und Sparsamkeit heute Besitzer einer Ladenkette, Präsident des deutschen Schuheinzelhandels. Mein erstes Steak - ich hab es wieder ausgekotzt.

Das ist doch ewig lange her ...

Drittes Lehrjahr, 80 Mark im Monat, Tagesablauf wie gehabt. Hinzu kam das Bedienen der Kunden in Stoßzeiten, dann die Verwaltung des Gummistiefellagers, Aufblasen von Reklameluftballons und wachsender Unmut unter uns Lehrlingen. Gewerkschaften kannten wir nicht, aber trotzdem wurde ein Sprecher gewählt, und das ist in so einem Fall immer der Naivste oder Mutigste. Ich war beides, also sprach ich. Ergebnis: Ich bekam das Filzpantoffellager noch hinzu, durfte am Betriebsausflug nicht teilnehmen, und die Kollegen schnitten mich.

Das ist doch ewig lange her ...

Ende der Lehrzeit: was hatte ich eigentlich gelernt - so gut wie gar nichts. Dann die Prüfung, alle wussten, ich würde durchfallen, aber ich bestand. Freisprechung mit allem Drum und Dran, Streichquartett, Reden, Kaufmannsgehilfenbrief, Glückwünsche. Nur die Geschäftsleitung war sauer. Und warum? Sie hätte mich gern durchfallen sehen, um mich als billige Arbeitskraft noch ein Jahr länger behalten zu können. Nun, drei weitere Jahre habe ich das noch mitgemacht, bevor ich mich traute zu sagen: Das ist nicht mein Leben.

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