Der Freitod ist feige! Ist er es wirklich?

                                                                                               (c)Staatsarchiv Berlin bei WIKIPEDIA

Der ARD-Film vom letzten Mittwoch " Der letzte schöne Tag " hatte mich angeleitet, eine kurze Rezension hierüber zu schreiben. Nicht nur wegen der dargestellten Thematik zum Suizid. Da gibt es ein durchaus brisanteres Thema. Der Tod ist so selbstverständlich wie die Geburt und das Leben. Als wesentlich dramatischer stufe ich das Martyrium des hinterlassenen familiären Umfelds ein.Was bei mir Assoziationen zu eigenen Erlebnissen geweckt hatte. Eigentlich war mein Anliegen, den sehr authentisch dargestellten Umgang der Hinterbliebenen mit dem Tod; hier im speziellen Fall: den Freitod, den Suizid und die Selbsttötung, zu bewerten.
Der Suizid als radikale Lösung zur Beendigung eines auf den einzelnen Menschen bezogenen, von ihm selbst so gesehenes, unwerten Lebens.

Wer oder was treibt einen Menschen in den Freitod? Sind es die Erkenntnisse, dass das eignen Leben in der gelegten Form nicht mehr lebenswert ist? Oder sind es fremdbestimmte Einflüsse, deren Steuerung außerhalb des sich selbsttötenden Menschen lagen? Sind es krankheitsbedingte Faktoren, die die Entscheidung selbst aus dem Leben zu scheiden, so stark in den Vordergrund bringen lassen, dass die Frage des Wann nur noch gestellt werden muss?

Was bedeutet der Suizid dann für die Hinterbliebenen? Sie erhalten eine andere Stellung in der Gesellschaft. Schon die Benennung Witwe(r), Halbwaise oder gar Waisenkind(er) sagt aus, dass sie nach dem Freitod einer Mutter oder eines Vaters anders behandelt werden. Auch die weiteren Angehörigen werden durch diese neue Situation in ihrem eignen Leben beeinflusst. Häufig werden sie mit der quälenden Fragen konfrontiert: " Hätte ich, hätten wir das verhindern können? " oder: " Warum habe ich, haben wir nichts gemerkt? " 
Selbstvorwürfe und Schuldgefühle gehen bei der Verarbeitung eines solchen Falles mit einher. Die Standardfloskel des: " Warum? ", wie sie häufig bei medial aufgebauschten Tötungsdelikten oder spektakulären Unglücken auf Plakaten inmitten des illuminierten Tat - oder Unglücksortes zu lesen ist, wirkt auf den Betrachter eher banal, denn ehrlich.

Jährlich gehen mehr 10.000 Menschen freiwillig (?) aus ihrem Leben in den Tod. Hierzu werden unzählige Varianten gewählt. Wenn sich ein Mensch vor einen heran jagenden Zug wirft, nennt die Deutsche Bahn dieses Ereignis eine " technische Störung ". Wenn ein Mensch mit einem PKW an einen Betonbrückenpfeiler rast, wird von einem " Verkehrsunfall mit Todesfolge " gesprochen. Der Freitod hat aber nicht nur viele Gesichter, er wird auch von der Gesellschaft unterschiedlich bewertet. Auch in den Medien unterscheidet sich die Berichterstattung zu einer suizidalen Handlung oft nach dem Bekanntheitsgrad des Menschen.Scheidet ein so genannter Prominenter auf diese Weise aus dem Leben, so wird in der oft reißerischen Berichterstattung nach dem Grund des Suizids gefragt. Ohne triftigen Grund scheidet kein Mensch freiwillig aus dem Leben. Wirklich nicht?

Nachdem sich am 9. Mai 1976 die RAF-Terroristen Ulrike Meinhof in ihrer Gefängniszelle des Hochsicherheitstrakts in Stuttgart-Stammheim erhängt hatte, ermordeten weitere Mitglieder der RAF in der Folgezeit weitere Menschen, so u.a. Siegfried Buback und Jürgen Ponto.Es kommt zu weiteren Gewalttaten und zu der Entführung von Hanns Martin Schleyer im Herbst 1977. Nachdem ein Überfall mit Geiselnahme in der Deutschen Botschaft in Stockholm und eine Flugzeugentführung in Entebbe scheitert, nehmen sich die in Stammheim einsitzenden Andreas Baader, Gudrum Ensslin und Jan-Carl Raspe das Leben.
Raspe und Baader erschossen sich mit einer eingeschmuggelten Pistole; Enssling erhängte sich mit Kabelbinder am Fensterkreuz, die mit inhaftierte Irmgard Möller fügte sich vier Messerstiche in die Herzgegend zu, wurde notoperiert und überlebte.

http://de.wikipedia.org/wiki/Todesnacht_von_Stammheim

Die drei Suizide wurde über einen langen Zeitraum untersucht, da von den Anhängern und Mitgliedern der RAF eine Mord-Hypothese in die Öffentlichkeit gestreut wurde, die dann auch bei den Sympathisanten noch Jahre danach als wahr unterstellt wurde.
Die Wahrheit aber lautet hier: Freitod!
Warum?
Nun, die Ziele der RAF waren durch die politisierten Endsechziger bestimmt. In dieser Zeit wurde beinahe Alles, jedoch Vieles in Frage stellt. Die Alt-Faschisten, die in der Nachkriegszeit wieder zu Amt und Würden kamen, verabschiedeten sich sukzessive aus der Wirtschaft und Gesellschaft, nicht ohne, dass sie ihren wieder gewonnenen Einfluss geltend machten, um notwendige Reformen zu blockieren. Dieses erkannten Baader und Konsorten auch. Sie propagierten deshalb den bewaffneten Kampf gegen das " Schweinesystem ", statt den von den 68ern gewählten Marsch durch die Institutionen anzutreten. Die friedlichere Variante gewann zwar im Wettstreit der Ideologien, wenn auch nur langsam und mit Gesinnungsschnüffelei durch die Staatsorgane; der von Baader-Meinhof gewählte Gewaltweg führte letztendlich in die Sackgasse und den Freitod.
 
Die Suizide der RAF-Mitglieder sind nicht nur als Konsequenz des Scheiterns des eigenen Lebens und der vermeintlichen Ideologie, dass mit Gewalt eine gesellschaftliche Veränderung durch gesetzt werden kann, zu betrachten, sondern auch als eine Flucht, um der angeblichen Siegerjustiz nicht den Sieg über die eignen Person und das Recht der Bestrafung zu überlassen.

Viele Jahre später, nämlich genau 34 Jahre, explodierte in Zwickau ein Wohnmobil, in dessen Innenraum die Polizei zwei verkohlte Männer fand. Es handelte sich um die beiden Terroristen Mundlos und Böhnhardt. Sie hatten sich selbst in die Luft gejagt, nachdem sie wegen der Ermittlungen zu verschiedenen Morden und anderer Straftaten von den Behörden steckbrieflich gesucht wurden. Die Selbsttötung als letzter Ausweg in einer ausweglosen Situation?  Der Fanatismus, der in den beiden Männern, die sich als Mitglied des NSU ( Nationalsozialistischer Untergrund ) bezeichneten, inne wohnte, muss wohl so stark ausgeprägt gewesen sein, dass sie den Freitod als letztes Mittel im Kampf gegen den von ihnen verhassten Staat, seiner Organe und der Gesellschaft angesehen haben. Verblendete Männer, die einer diffusen Ideologie hinterher liefen, aus der mehr als ein Dreivierteljahrhundert zuvor nur Tod, Elend und Zerstörung hervor gingen. Auch diese beiden mutmaßlichen Mörder wollten sich der Siegerjustiz entziehen, indem sie sich selbst hinrichteten.

http://de.wikipedia.org/wiki/Nationalsozialistischer_Untergrund

Am 11. März 2009 erschoss der ehemalige Schüler Tim Kretschmar in der Albertville-Realschule in Winnenden 12 Schüler und Lehrer, auf seiner Flucht drei weitere erwachsene Personen und zuletzt sich selbst.
11 weitere Personen wurden verletzt und in Krankenhäuser behandelt. Ungezählte Betroffene und Beteiligte sind bis heute traumatisiert. Die Medien titelten von einem Amoklauf eines normalen jungen Mannes, der plötzlich zur mordenden Bestie mutierte. Was zunächst eher unerklärlich blieb, löste sich alsbald in ein Persönlichkeitsbild des Täters auf, dass von Hass und Gewalt geprägt war. Der Täter war nicht nur in einer Familie groß geworden, in der der Vater als Sportschütze eine Vielzahl von Waffen besaß, den Sohn auch zu Schießsportveranstaltungen mit nahm, sondern ihm auch - unkontrolliert - ermöglichte, die so genannten " Ballerspiele " auf dem PC zu spielen. Hinzu kam ein eher gestörtes Verhältnis zu Frauen und Mädchen. Später ermittelten die Staatsanwaltschaft und die Polizei, dass sich Kretschmar zeitweise in psycho-therapeutischer und neurologischer Behandlung begeben hatte.
Gegen den Vater wurde ein Strafverfahren eingeleitet, da er die Pistole, mit der sein Sohn 15 Menschen und sich selbst erschoss, unbeaufsichtigt hatte liegen lassen. Der Vater wurde knapp zwei Jahre nach dem Amoklauf wegen 15-facher fahrlässiger Tötung und Verstoßes gegen das Waffengesetz zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und 9 Monaten verurteilt. Er lebt mit seiner Frau und der Tochter unter anderem Namen an einem unbekannten Ort. Von möglichen Zivilverfahren gegen den Vater ist bisher nichts bekannt.
Selbst wenn Opfer, Angehörige oder auch die Stadt selbst zivilrechtliche Schadenersatzansprüche geltend machen und vielleicht auch durchsetzen könnten, bei dem Vater dürfte nichts zu holen sein, denn das laufende Strafverfahren wird schon genug gekostet haben.

http://de.wikipedia.org/wiki/Amoklauf_von_Winnenden
http://www.stern.de/panorama/nach-amoklauf-urteil-tim-ks-vater-droht-neue-klage-1652653.html

Auch im Fall des Amoklaufes von Winnenden stellt sich die Frage, ob die Selbstrichtung des Täter Tim Kretschmer in letzter Konsequenz als Lösung zu einem ausweglosen Leben und in einer ausweglosen Situation zu sehen ist. War der Freitod das letzte Mittel, um seinem Leben als gescheiterter Mensch ein Ende zu bereiten? Oder war es nicht so, dass der Täter, der wegen 15fachen Mordes und vielfachen Mordversuchs sowie anderer Delikte zu einer maximalen Jugendstrafe von 10 Jahren verurteilt worden wäre, sich dieser Bestrafung durch den Suizid entziehen wollte?
War es eine Verzweifelungstat nach einem geplanten Massaker? Oder war das eigenhändige Hinrichten eine ebenso geplante Tat, um ein subjektiv als lebensunwertes Dasein - bereits mit 17 Jahren - zu beenden?

Nach dem bundesdeutschen Recht, insbesondere dem Verfassungsrecht hat jeder Bürger die freie Entscheidung, seinem Leben durch Freitod ein Ende zu setzen. Aus Artikel 1 des Grundgesetzes ergibt sich nach der aktuellen Interpretation die Grundlage zur freien Entfaltung der Persönlichkeit. Aus der dort garantierten Individualität wird die Unantastbarkeit der Menschenwürde abgeleitet. Die rechtlichen Grenzen werden durch das Recht der Anderen gezogen und das Verbot, gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz zu verstoßen, gezogen. Zu der freien Entfaltung der Persönlichkeit zählt auch das eingeräumte Recht, lebensverlängernde, medizinische Maßnahmen ablehnen zu dürfen.
Inwieweit ein Verstoß gegen das Sittengesetz durch die Ablehnung lebensverlängernder Maßnahmen vorliegt oder auch die Ausübung der Religionsfreiheit tangiert, ist in der Jurisprudenz strittig.
Das Sichberufen auf die Religionsfreiheit findet dort seine Schranken, wo der Glaube als Dogma anderen Menschen übergestülpt werden soll.
Da der christliche Glaube den Suizid als selbst in die Hand genommenen Mord ablehnt und als Gotteslästerung qualifiziert, was die Hölle als Strafe nach sich zieht, wird auch die aktive Sterbehilfe durch die christlichen Kirchen rundum als mit dem Glauben unvereinbar angesehen.

Entsprechende Grenzen im Hinblick auf die grundrechtlich gewährte freie Entfaltung der Individualität werden durch philosophisch-weltanschauliche System gesetzt. Wobei die Ableitung des Kant´schen Begriffs des Kategorischen Imperativ auf die individuellen Freiheitsrechte, das eigene Handel selbst zu bestimmen, in dem Fall der Selbsttötung zu einem Konflikt mit dessen philosophischen Grundtenor führt und damit gegen das Sittengesetz verstößt.  

Sanktionsrechtlich betrachtet, ist der Suizid straffrei. Die Sterbehilfe indes, also das aktive Dazubeitragen, dass ein Mensch in den Freitod geht, unter Umständen strafbar. Die Anleitung oder Aufforderung durchden Freitod das Leben zu beenden ebenfalls. Der spektakuläre Fall von Jonestown im guayanischen Dschungel 1978, bei dem 921 Menschen sich selbst richteten, wird als Beispiel für eine durch systematische Indoktrination herbei geführte Massenselbsttötung geführt.

Der Suizid hat viele Gesichter, wenn er allein in der BRD jährlich mehr als 10.000 Leben beendet. Es sind aber nicht nur psychische Erkrankungen, wie die als "Volkskrankheit " anzuerkennende Depression, die einen Menschen in den Freitod gehen lassen. Häufig ist es ein Zusammenwirken vieler Faktoren, die dann in der Summe den Willen und Entschluss heran reifen lassen, sein eigens Leben zu beenden. Verzweiflung ist keine Erkrankung. Sie ist der Ausdruck dafür, dass die eigne Kraft, die eigene Persönlichkeit nicht ausreicht, um das knall harte Leben in dieser Ellenbogen-Gesellschaft meistern zu können.Die profit-orientierte Schulmedizin bietet eine Vielzahl von Hilfestellungen, um einen sich mit Suizidgedanken tragenden Menschen zu unterstützen. Nicht alle sind erfolgreich. Häufig werden Berge an Psychopharmaka in einen Suizidgefährdeten hinein gepumpt, damit er ruhig gestellt werden kann.

Als im Herbst 1987 - ich hatte mich gerade mit einem Studienkollegen zur Rechtsanwaltschaft zugelassen - ein  junger Mann in unserer Kanzlei auftauchte und eine " wilde " Geschichte erzählte, die von einem Suizid und einem Verkehrsunfall handelte, wollte ich im das Erzählte nicht abnehmen. " Das ist ein Spinner ", dachte ich mir und ließ mir von einer Kollegin die Akte geben. Nach deren Studium musste ich meine Meinung revidieren. Aus dem " Spinner " wurde plötzlich ein bemitleidendswerter Mensch. Er hatte sich in den Mittacht zigern durch eine Fahrt gegen einen Brückenbetonpfeiler auf der A 27  selbst töten wollen. Schwerverletzt überlebte er den Unfall, lag Monate lang im Koma, musste eine Reha-Klinik aufsuchen und verunfallte knapp zwei Jahre später wieder. Dieses Mal als Fahhradfahrer, der von einem PKW mit Pferdeanhänger erfasst und 20 Meter durch die Luft geschleudert wurde. Er erlitt multiple Knochenbrüche, eine schwere Schädelprellung und lag wieder über Monate im Krankenhaus. Die gegnerische Versicherung schnüffelte in den Artberichten herum und unterstellte ihm, dass es sich bei den erheblichen Verletzungen um Folgeschäden handele, die aufgrund des Suizidversuchs entstanden seien. Eine Regulierung wurde zunächst abgelehnt.
Deshalb kam er zu uns.

Die Gesellschaft schweigt zum Thema Freitod und wenn sie darüber spricht, dann nur in Plattitüden. " Wie konnte das nur passieren? " oder " Wir haben nichts bemerkt. " Wenn ein Suizidversuch scheitert, ist es für den Betroffenen indes noch schwerer, in dem Alltag wieder Fuß zu fassen. Die Gesellschaft schweigt zum Thema Freitod und wenn sie darüber spricht, dann nur in Plattitüden. " Wie konnte das nur passieren? " oder " Wir haben nichts bemerkt. " Wenn ein Suizidversuch scheitert, ist es für den Betroffenen indes noch schwerer, in dem Alltag wieder Fuß zu fassen. Eine Stigmatisierung des Menschen, der durch den Freitod aus dem Leben gehen wollte, ist eher die Regel, denn als Ausnahme zu sehen. Wer sich freiwillig aus dem Leben verabschieden will, der ist entweder krank oder ein Feigling, so lautet die Quintessenz in derartigen Fällen.

Der 17. November 2005 zeigte sich am frühen Morgen grau und naß-kalt. Ein typischer Spätherbsttag. Ein Tag davor, es war der 16. November, war Buß - und Bettag. Ein überwiegend inzwischen abgeschaffter Feiertag. Früher, in den Endsechzigern und frühen Siebzigern wurde dieser Tag als " Buß - Betttag " verhohnepipelt, weil es jeweils ein Mittwoch in der dritten Novemberwoche war, bei dem alle Diskotheken und sonstige Veranstaltungen erst ab 22.00 Uhr begannen, denn vorher durfte keine Musik gespielt werden. Demnach konnte sich ein junger Mensch, der mit dem religiösen Feiertag nichts anzufangen wusste, getrost zum Schlafen hinlegen und die Zeit bis 22.00 Uhr abwarten.

An jenem Tag, nach dem in Sachsen geltenden Feiertag, wurde es erst kurz vor halb Acht hell. Der November ist ein Monat, der in den mitteleuropäischen Breiten als " grau ", " trist " und  auch " bedrückend " angesehen wird. Statistiken sollen angeblich belegen, dass der Monat November eine erhöhte Suizidrate aufweise.

Als die Helligkeit einen Blick in den Garten des Grundstücks zu lässt,sind die letzten Blätter der dort stehenden Obstbäume auf dem nassen Rasen zu erkennen. Das Wasser des zu DDR-Zeiten eingebauten Schwimmbeckens ist längst mit einem grünlichen Schmutzfilm überzogen. Auch dort ist Laub hinein gefallen. Noch ein kurzer Blick, ehe die Hand zu der Teetasse greift. Ab und zu lassen sich noch einige einheimische Vögel beobachten, die die Reste aus den noch am Baum hängenden Zapfen der großen Fichte aufpicken. Eher zufällig trifft der Blick noch einmal den gefliesten Rand des Schwimmbeckens. Da liegt irgendetwas im Wasser, was da nicht hingehört. Eine vom Wind hinein gewehte Plane oder Plastiktüte oder ein Müllsack. Eigentlich sieht dieses zu groß für die sonst genutzten PVC-Säcke aus, in denen jährlich das Laub gesammelt wird. Nein, in dem Wohlstandsbecken liegt ein größerer Gegenstand. Jetzt sind auch die Konturen klarer zu erkennen.

Der zügige Gang in die untere Etage und das gleichzeitige Rufen des Namens der Mitbewohnerin erfolgt intuitiv. Das mehrfache, lauter werdende Nachfragen, ob die Mitbewohnerin schon wach ist, bleibt immer unbeantwortet. Wenige Schritte sind zur Außentür, die zum Garten führt, zu gehen. Die Tür ist unverschlossen. Das seltsame, teils ängstliche Gefühl verstärkt sich. Die Ahnung, dass hier etwas nicht stimmt, verfestigt sich in dem Gedanken, dass der von oben gesehene Gegenstand  keiner ist, sondern es sich um die Mitbewohnerin handelt.
Nach einigen Metern, die auf dem nassen Rasen zurück gelegt sind, wird diese Ahnung zur Realität.Da liegt sie, bäuchlings auf der schmutzig-grünen Wasseroberfläche. Das Gesicht sieht in die knapp 2 m messende Tiefe. Eine Pfütze eher, ein kleiner Tümpel, ein leicht größeres Planschbecken, das ausreicht, um sein Leben zu beenden.Der Körper ist umhüllt von neueren Kleidungsstücken. Die Frisur sieht adrett aus. Wäre das Wasser nicht, es könnte so aussehen, als schliefe sie.Den ewigen Schlaf der Gerechten, in einer ungerecht gewordenen Welt. Ein friedlicher Tod. Kein Blut, keine zerschmetterten, aus dem Fleisch heraus ragenden Knochen, keine inneren Organe, die aus der Bauchdecke gedrückt sind. Ein schöner Tod. Ein ästhetischer Abgang in die " Ewigen Jagdgründe ", so, wie sie aus den Karl May - Verfilmungen der 60er Jahre gezeigt wurden, wenn ein Indianerhäuptling starb.

Der weitere Ablauf ist Routine: Das Wählen der Telefonnummer 112, das Warten auf den Rettungswagen und das Einsatzfahrzeug der Polizei. Es sind gleich mehrere Helfer, die den Notarzt begleiten. Die jungen Polizeibeamten sind verunsichert. Ein toter Mensch ist zu Beginn der Dienstlaufbahn kein Einsatz, den sich ein noch unerfahrener Polizist wünscht. Die Fragen befassen sich deshalb mehr mit dem Gesamtbild. Es könnte ja auch ein Tötungsdelikt vorliegen. Später erscheint eine Hauptkommissarin der Kriminalpolizei. Ihre Befragung wird konkreter sein. Ist ein Abschiedsbrief vorhanden? War die Tote in ärztlicher Behandlung? Waren Anzeichen für die Selbsttötung erkennbar? Die beiden jungen Polizeibeamten, denen der Vorfall tatsächlich an die " Nieren " geht, stehen immer noch etwas ratlos herum. Das Angebot einer Tasse Kaffee wird ablehnt. Aus nachvollziehbaren Grund? Wer den Tod in die Augen gesehen hat, dem ist nicht nach Kaffeetrinken zu mute. Die Kommissarin schickt die jungen Kollegen zur Dienststelle zurück. Sie können hier eh nichts mehr tun.

Die Befragung dauert an. Inzwischen sind die näheren Angehörigen informiert. Auch sie werden befragt. Es ist bereits zwei Stunden her, seit dem Leichenfund im Becken. Das Bestattungsunternehmen rückt an. Der Leichnam wird geborgen. Der Totenschein ist ausgestellt. Gebührenpflichtig, versteht sich. Der junge Arzt im Rettungswagen hat auch noch den Totenschein falsch ausgefüllt. Er war schon beim Eintreffen hyper-nervös. Ein Toter am frühen Morgen. Nein, das sprengt oft auch die Alltagsroutine. Betrunkene, bei Schlägerein  oder durch Autounfälle Verletzte, dass ist ein anderes Kaliber. Die leitende Kommissarin zitiert den inzwischen abgefahrenen Arzt zurück. " So geht das nicht!", formuliert sie etwas unwirsch. Hier spricht die jahrelange Berufserfahrung. Nachdem die Bescheinigung ein zweites Mal ausgefüllt ist, verlässt der Notarzt das Grundstück. Auch er sieht mehr als betroffen aus. Der Job des Helfers unterscheidet aber nicht, ob die Hilfe nicht mehr gewährt werden kann, weil der Tod eingetreten ist. Auch für den Mediziner ist der Suizid kein Alltag. Er gehört jedoch zum Beruf dazu, wie eine Alkoholvergiftung durch Komasaufen, ein Oberschenkelhalsbruch nach einem Sturz auf vereistem Gehsteig oder das Erstversorgen einer Platzwunde nach einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen rivalisierenden Fußballanhängern.

Die beiden Mitarbeiter des Bestattungsinstituts haben den Leichnam oberflächlich zurecht gemacht. Er liegt auf einer Plastikplane auf der Terrasse. Für diese beiden Herren ist der Tod ein Bestandteil des Berufs und des Geschäfts. " Sie können jetzt Abschied nehmen. ", heisst es lapidar. Ein gekünsteltes Auftreten wäre fehl am Platz. Da liegt sie nun, als würde sie tief schlafen. Friedlich. Kein schmerzverzerrtes Gesicht oder ein halb offener Mund; keine sichtbaren Blessuren. Wenn der Tod nur immer so friedlich wäre!
Als wäre es ein Vorgesetzter bei der Bundeswehr, dem Meldung zu erstatten ist, gehen die Hacken zusammen. Ein sichtbare Verbeugung - das war´s! " Herzliches Beileid!", sind die Worte der beiden Mitarbeiter, dann wird der Leichnam in den - nicht nur aus Filmen - bekannten Zinksarg hinein gehievt.
Toter sind schwer, weil ja das Leben aus dem Körper entwichen ist. Wer selbst zum Helfer bei Unfällen wird, der weiß das, denn selbst Schwerverletzte oder am Unfallort Versterbende, lassen sich kaum bewegen.

Die Ermittlungsarbeiten werden beendet. Die Kriminalpolizei verabschiedet sich. Nun werden über Stunden viele Gespräche geführt, die sich um die Verstorbene drehen. Langsam setzt sich aus vielen, oft eher beiläufigen Begebenheiten ein Gesamtbild zusammen. Ein Puzzle des Todes quasi. Das Einschläfern des alten, blinden jedoch noch vitalen Hundes, weil dieser bei den nächtlichen Aktionen, die der Suizidvorbereitung dienten, ständig unruhig umher lief und bellte. Das systematische Zerstören der Pumpeneinrichtung des Schwimmbeckens, so dass - wie eigentlich geplant - das Wasser nicht mehr abgelassen werden konnte.Das einzelne Sichverabschieden von den näheren Familienangehörigen. All dieses Handlungen fügen das Bild des geplanten Suizids zusammen.

Der Abschiedsbrief ist eher in einer entschuldigenden Form geschrieben: " Seid mir nicht böse, aber ich schaffe es nicht mehr. Und bevor ich auch zum Pflegefall werde, wähle ich diesen Weg." Dann folgenden die Worte " lieb haben " und " werdet glücklich " sowie " unglücklich sein ". Der Text deutet eher nach Selbstzweifel, denn Verzweiflung hin. Wer war die Tote? Ein älterer, inzwischen unglücklicher Mensch? Die Gespräche von der Vergangenheit sagen etwas anderes aus.

Wenige Wochen später wird die Trauerfeier erfolgen. Zuvor musste die hiesige Staatsanwaltschaft den Leichnam noch frei geben. Die Verwandtschaft ist überwiegend aus der Stadt gekommen, aber auch aus anderen Bundesländern. Der Termin in der Trauerhalle des Annen Friedhofs wurde vorher mit der dortigen Verwaltung abgestimmt. Es wird eine Urnenbeisetzung geben. Die angemessene, aber auch kostengünstigste Variante. Die Bestattungs - und Trauerindustrie hat gesalzene Preise. Eine Doppelbeerdigung liegt da schon mal im fünfstelligen Bereich. Die ungeordneten finanziellen Verhältnisse lassen dieses nicht zu. Wer sieht einen teuren Sarg schon an, dass dieser im oberen Preissegment steht, wenn er in die Gruft gelassen wird und mit Erde abgedeckt ist? Niemand! So hält sich das Kostengefüge in Grenzen, das dennoch den finanziellen Rahmen der dafür herangezogenen Angehörigen sprengt. Auch ein Freitod bürdet diese Last den unmittelbaren Angehörigen auf.

Als die letzten Töne aus dem " Air " von Johann Sebastian Bach verklungen sein werden, wird eine selbst verfasste und vorgetragene Trauerrede gehalten. Wer konfessionslos ist, muss nicht nach seinem Freitod als Religionsangehöriger geführt werden. Ein Pastor oder Pfarrer wird nur jene Worte des Trostes und der Trauer finden, die er selbst verantworten kann und die sich aus dem Berufsumfeld der Glaubensausübung ergeben. Warum dann eine Nichtgläubige beerdigen? Der Trauerredner ist da schon eher eine Alternative, denn er/sie gehen aus einer völlig anderen Richtung jene Aufgabe des Abhaltens einer Trauerrede an. Die dritte Möglichkeit ist - sie setzt allerdings voraus, dass die Entschlossenheit, sich dieser belasteten Aufgabe zu stellen, vorhanden sein muss - das ein Angehöriger die Trauerrede hält.

Nach einer Stunde wird die Beerdigung beendet werden. Es wird der Leichenschmaus folgen. Eine übliche, dennoch unbequeme Pflichtveranstaltung. Oft wird zum Kaffee und Kuchen bereits Alkohol getrunken und dann - bei einem entsprechenden Quantum an hoch geistigen Getränken - über die Verstorbenen noch her gezogen. Das bleibt dieses Mal aus. Es wird gesittet zugehen.
Was gibt es noch zu erzählen? Episoden aus der Vergangenheit? Ereignisse zu Zeiten der längst untergegangenen DDR, in denen es den Verstorbenen besser ging, obwohl das System und der es tragende Staat abgelehnt wurde? Dieser Leichenschmaus wird nicht bis in den späten Abend hinein gehen. Die Trauergäste aus der Ferne werden zum Aufbruch drängen. Die Gesellschaft wird sich sukzessive auflösen.
Was bleibt, wird der individuelle Umgang mit dem erlebten Tod sein.
Es wird Jahre dauern, bis die Erinnerungen an jene Tage, Wochen und Monate im Herbst des Jahres 2005 langsam verblassen.

Was bleiben wird, ist die Grabstätte und die ungeklärte Frage, warum ein körperlich gesunder Mensch sich durch jenen Freitod aus der Verantwortung für sein Leben, das Leben der zuvor ihn tragenden Familienangehörigen stiehlt? Es gab einen triftigen Grund, den der Erkrankung des Partners, aber ist dieser gewichtig genug, um sich feige aus dem Lebensumfeld für immer zu verabschieden?

Die Beispiele zeigen, dass der zwischen einem Suizid aufgrund einer Erkrankung und einer Selbsttötung aus ideologischen oder religiösen Gründen sehr schmal ist. Wenn die zu der Filmrezension geäußerten Meinungen auch die dort aufgestellte Hypothese, dass Suizid als Flucht vor dem eigenen Leben oder dann - wie hier darstellt - als Feigheit anzusehen ist, in Frage stellen, so überzeugen mich diese Argumente nicht unbedingt. Der Tod ist unabänderlich, er ist der Bestandteil des Lebens; der Freitod kann verhindert werden und zwar durch den Versuch, dem Suizidgefährdeten menschliche Hilfestellung zu geben.
Es steht den Hinterbliebenen sehr wohl zu, die Entscheidung eines sich selbst tötenden Angehörigen kritisch zu hinter fragen und sich dann ein Urteil zu bilden. Ebenso sind mögliche Lösungen zu diskutieren, die den Suizid vermeiden können. Dazu zählt natürlich nicht, dass Suizidgefährdete in Anstalten oder andere Einrichtungen dauerhaft weg gesperrt werden müssen.

So wird die Frage den Gründen des Freitods für viele Angehörige meist unbeantwortet bleiben und jene offene Frage hierzu werden die Hinterbliebenen, neben der vielleicht lebenslänglichen Trauer, den seeligen Schmerz und sogar Schuldgefühlen mit in das eigene Grab nehmen.Was beispielsweise Mascha Kaleko mit ihrem wunderbaren Gedicht " Letztes Lied " ausdrückt, findet sich auch in anderen Beiträgen zum Thema " Tod " wieder:
Wenn ich noch einmal zu leben hätte,
dann würde ich viel mehr Fehler machen;
ich würde versuchen,
nicht so schrecklich perfekt sein zu wollen,
dann würde ich mehr entspannen
und vieles nicht mehr so ernst nehmen;
dann wäre ich ausgelassener und verrückter;
ich würde mir nicht mehr
so viele Sorgen machen um mein Ansehen;
dann würde ich mehr reisen,
mehr Berge besteigen,
mehr Flüsse durchschwimmen
und mehr Sonnenuntergänge beobachten;
dann würde ich mehr Eiscreme essen,
dann hätte ich mehr wirkliche Schwierigkeiten
als nur eingebildete;
dann würde ich früher im Frühjahr
und später im Herbst barfuß gehen,
dann würde ich mehr Blumen riechen,
mehr Kinder umarmen
und mehr Menschen sagen, dass ich sie liebe.
Wenn ich noch einmal zu leben hätte,
aber ich habe es nicht …

ein 85-jähriger, den nahen Tod vor Augen

Das Leben ist vielseitig, nicht immer lebenswert. Der Tod indes unwiderruflich. Was danach folgt, ist nicht bekannt.







 

Kommentare

Octapolis hat gesagt…
...und das Leben endet meistens tödlich. ;o)
Lobster53 hat gesagt…
Richtig! Die Frage ist nur: In welcher Form?
til_o. hat gesagt…
Ich denke, man sollte es einfach akzeptieren und respektieren wenn ein Mensch freiwillig aus dem Leben geht. Aus was für Gründen auch immer. Er hat diese Entscheidung getroffen und so viel Achtung sollte man ihm entgegenbringen.

Im Leben können uns Dinge widerfahren, die uns unwiderruflich aus der Bahn werfen können. So nichtig sie anderen erscheinen mögen, so unüberwindbar sind sie für einen selbst.
Wie wir in solch Grenzsituationen reagieren würden, kann uns keiner sagen. Nicht der Partner, der Freund und am wenigsten wir selbst. Heute ist uns der Suizid suspekt und morgen praktizieren wir ihn vielleicht selbst. Niemand ist davor gefeit. Das, wenn man in seine Vergangenheit blickt auch seine Zukunft sieht, ist nur die halbe Wahrheit. Das Karussell des Lebens zieht seine Kreise ohne auf uns Rücksicht zu nehmen.

Moderne Psychopharmaka stellen übrigens nicht ruhig. Sie bedienen unterversorgte Rezeptoren mit fehlenden Botenstoffen oder blockieren diese je nach Bedarf. Dabei regen sie das Gehirn an diese wieder selbst in einem ausreichenden Maß zu produzieren. Sie ermöglichen einem somit die Rückkehr in die Normalität. Wenn man dabei ruhiger wird, so liegt das in der Natur der Sache. *g*
K'Leena hat gesagt…
Erst einmal finde ich es gut, dass du dieses schwieriges Thema in deinen Blog aufnimmst. Die Beispiele, die du anführst, sind alle Suizide, um der Strafe oder eben auch Gerechtigkeit zu entgehen. Da ist der Selbstmord tatsächlich egoistisch und feige.
Doch die vielen Suizidbegehenden flüchten nicht alle vor dem Gesetz. Viele fühlen sich wertlos, hatten wirklich traumatische Erfahrungen in ihrem Leben und waren lange Zeit tapfer diese Gefühle und/oder Erinnerungen auszuhalten. Natürlich ist auch die Gefühlswelt des Menschen chemisch bedingt und kann mit entsprechend Mitteln behandelt werden. Aber Pillen allein können auch nicht die Realität für immer ersetzen, sondern lediglich eine Illusion der Ruhe geben. Die Medikamente können also chemisch helfen, psychisch nur bedingt.
Und manchmal geht es einfach nicht. Den Hinterbliebenen mag das feige und ungerecht ihnen gegenüber erscheinen, aber wenn ein Mensch mit einer solch schweren seelischen Last nicht mehr leben kann oder will…würden Sie einem Herzkranken, der keine maschinelle Lebenserhaltung mehr will, seine Entscheidung übel nehmen?
Wie ich schon bei dem anderen Thread geschrieben habe, jeder Suizid ist anders, jeder Mensch ist schließlich anders. Alle schlichtweg als feige zu bezeichnen, finde ich falsch. Zumal die, die Selbstmordgedanken haben, ein zusätzliches Laster der vermeintlichen Feigheit auferlegt bekommen.
Ich will auf keinen Fall behaupten, dass ich Suizid unterstütze! Ich möchte am liebsten jeden davor bewahren, denn überhaupt darüber zu denken, ist eine schreckliche Sache. Aber ich bitte dennoch um ein wenig Verständnis und Respekt gegenüber diesem Thema. Den Betroffenen und den Angehörigen.
~Silvia

Beliebte Posts aus diesem Blog

" Eine Seefahrt, die ist lustig. " - nur nicht in den 60er Jahren zum AOK - Erholungsheim auf Norderney.

" Oh Adele, oh Alele, ah teri tiki tomba, ah massa massa massa, oh balue balua balue. " und die Kotzfahrt nach Wangerooge.

Was ist eigentlich aus dem Gilb geworden?