" Fritz, hasté Botder bie de? " - Wie ein rollendes Lebensmittelgeschäft in den 60er Jahren funktionierte.

Die entbehrungsreichen Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg waren für viele Westdeutsche schon fast in Vergessenheit geraten, wäre da nicht zu Beginn der 7. Dekade des 20. Jahrhunderts, nämlich 1966, die zweite Wirtschaftskrise ( die erste Rezession wurde bereits 1948 vor der Gründung der BRD verzeichnet ) welche  den Wirtschaftsboom ins Stocken geraten ließ. Jene 60er Jahre waren zudem gekennzeichnet durch einen leichten politischen Wandel. Das CDU-Adenauer-Regiment mit seinen absoluten Mehrheiten im Bund sowie in den Bundesländern, die Machtschacherer in der Bundesregierung, dem Bundesrat und den Landesparlamenten verloren zunehmend an Wählern, Unterstützern und Vertrauen in der Bevölkerung. Diese Zeit war bereits durch die so genannte " SPIEGEL "-Affäre 1962, die Demission des " Alten " von der Rhön, dem erzkatholischen Ur-Kölner und " Sovjeets-"-Hasser Konrad Adenauer im Jahre 1963 sowie auch der außenpolitischen Fehler in der von 1963 bis 1966 bestehenden Kanzlerschaft Ludwig Erhardts - für die der Bundesaußenminister Gerhard Schröder einzustehen hatte - mehr als unruhig geworden.
Erhardt, der zuvor Bundeswirtschaftsminister und Mitinitiator der " Sozialen Marktwirtschaft " war, musste sich nicht nur innenpolitisch gegen die hinterhältigen Intrigen seines einstigen Mentors Adenauer, der ihn zum Vize-Kanzler empor hievte, erwehren, sondern auch die unverschämten Forderungen der West-Alliierten, insbesondere der USA,nach dramatisch höheren Zahlungen für die Besatzungskosten, finanziellen Beteiligungen an dem von den USA veranlassten Vietnam-Krieg und einer zunehmenden Verschlechterung der Konjunkturdaten erwehren,sondern hatte auch mit eher unfähigen Kabinettsmitglieder der CDU/CSU-FDP-Koalition zu kämpfen. Der einstige Wirtschaftsminister hieß Kurt Schmücker und gehörte der CDU an, der 1963 benannte Finanzminister Rolf Dahlgrün war FDP-Mitglied. Beide zeigten sich als eher unfähig.

Erhardt selbst agierte als 2. Kanzler der BRD glücklos. Die sich abzeichnende Rezession begann jedoch bereits noch vor seiner Regentschaft,nämlich unter Adenauer 1962. In seiner berühmten Rundfunkrede am 21. 03. 1962, dem kalendarischen Frühlingsanfang, deckelte Erhardt die bereits hoch gesteckten Erwartungen der Westdeutschen an Staat und Wirtschaft, in dem er die Bevölkerung der BRD zum "Maßhalten" aufforderte. Der Grund waren eine vollkommen überhitzte Konjunktur, die zwar Vollbeschäftigung vor wies,jedoch sich durch starke Preissteigerungen ( inflationäre Tendenz ) auszeichnete.
Erhardt gab drei Jahre später erneut einen Warnschuss an die Bevölkerung ab:

" In seiner Regierungserklärung am 10. November 1965 zeichnete Erhard ein Bild der wirtschaftlichen Schwierigkeiten, das uns heute in vielem vertraut vorkommt. Der Handelsbilanzüberschuss durch den Export war 1965 auf wenige hundert Millionen Mark zurückgegangen, und "der von Jahr zu Jahr steigende Subventionsaufwand der öffentlichen Hand nimmt bedenkliche Ausmaße an", klagte der Kanzler. Alle wollten Wohlstand und soziale Sicherheit, gleichzeitig aber müsse die Wirtschaft riesige Investitionen vornehmen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Der Mangel an Arbeitskräften verschärfe die Situation noch. "Wir müssen unsere Ansprüche zurückstecken oder mehr arbeiten", forderte der Vater des Wirtschaftswunders. Das war knallhart. "

    -   Zitatende  -

In jener Zeit also, als die Konjunktur boomte, als die Bundesdeutschen sich wieder etwas mehr leisten wollten, als die Erhardt'sche Politfloskel vom " Wohlstand für Alle " im Umlauf war, entstand eine tiefe Kluft zwischen Arbeitnehmer und Selbständigen zwischen Habenden und Nichtshabenden. Arbeit war ja eigentlich genug da. Es herrschte sogar ein Arbeitskräftemangel, der dann sukzessive durch die oft zitierten " Gastarbeiter ", verschmähten " Fremdarbeiter " oder die " Kanaken " behoben wurde. Doch für eben jene Arbeiter, die damals noch 48 Stunden und mehr malochen mussten, wurde wenig Lohn gezahlt. Das Lohn - und Gehaltsgefüge - damals gab es noch den Unterschied zwischen Arbeiter und Angestellten - war in den 60er deshalb niedrig,weil die liberale Wirtschaftspolitik das Märchen von dem bei hohen Gewinnen schneller investierenden Unternehmer herum erzählte. Diese Lügengeschichte blieb auch über viele Jahre noch im Umlauf, selbst noch in den Zeiten, als die Unternehmen längst zu Kapitalgesellschaften umgewandelt wurden, die Unternehmensformen sich überwiegend auf die beinahe Risiko lose Gesellschaft mit beschränkter Haftung reduzierte und die ursprünglichen Familienbetriebe sich längst auf dem Rückzug befanden.

In jener Zeit des wirtschaftlichen Wandels also, existierte eine Vertriebsform,die sich " fliegender " oder mobiler Händler nannte. Es waren kleine Geschäfte, die meist aus einer Person oder einigen mitarbeitenden Familienmitgliedern bestanden und deren Kundenkreis eher überschaubar war. Diese kleinen Geschäfte deckten überwiegend den ländlichen Bereich ab. Sie bedienten jenes Klientel,dass damals nicht die Mobilität besaß,um in größere Orte oder sogar Städte einkaufen zu fahren. Diese Art von Vertrieb hatte jedoch auch eine gewichtige soziale Komponente: man kannte sich!
Die persönliche Note war überaus verkaufsfördernd. Ein vertrauliche " Du " verbunden mit einem Gespräch zu oder über familiäre Ereignisse, über die Nachbarschaft, über Liebe,Tod und Teufel, das war es, was den gravierenden Unterschied zu den heutigen Einkaufsvarianten ergab. Die Anonymität war in der uns längst bekannten Form nie vorhanden.
Aus dem begrenzten Warenangebot des rollenden Lebensmittelverkaufs oder des fahrenden Backwarenangebots eines in der unmittelbaren Umgebung tätigen Bäckers, vielleicht noch eines überland ziehenden Fischwarenhändlers, sie alle stellten einst ein wintzinges Mosaiksteinchen im prosperierenden Westdeutschland dar.

Der Lebensmittelhändler hatte ein "Spar"-Geschäft in Bad Eilsen. Seine Kundschaft setzte sich aus den Bewohner der Nachbarorte zusammen. So sehe ich ihn im Gedanken heute noch die im Hochsommer staubige Feldstraße in Bad Eilsen / Heeßen hoch fahren. Das ursprüngliche Dreirad-Gefährt, das mit seiner spitzen Schnauze und dem breiteren Heck, wie ein Metallkeil aussah und beim Anlassen wie ein alter Traktor tuckerte.
Es handelte sich um ein Tempo-Vehikel,dass ab den 50er Jahren auf dem Markt kam. Mit diesem zum Verkaufsstand umgebauten Karren befuhr der Miteigentümer jenes " Spar "-Lebensmittelgeschäfts sämtliche Straßen in den Nachbarorten. Um auf sich aufmerksam zu machen, war an der Front des Fahrzeuges eine riesige elektrische Klingel angebracht, die er bei jedem Mal bereits nach der Straßeneinmündung von der Bückeburger Straße zur Feldstraße bereits betätigte.

"Fritze is doar!", so hieß es bei meiner Großmutter immer,wen sie das laute Klingelgeräusch aus der oberen Etage des Hauses wahr genommen hatte. Dann ging sie mit der Kittelschürze um den Leib die Treppen zur Haustür herunter, stieg die beiden Eingangsstufen hinab und öffnete das Tor zum Zaun, um so auf die unasphaltierte Straße zu gelangen. Es waren meist nur Kleinigkeiten, die sie dort gekauft hat. Da mal ein halbes Pfund " gute " Butter, deren Preis sich auf astronomische 1,99 Deutsche Mark belief - manchmal sogar darüber -, dort ein Liter Milch, den " Fritze " ihr aus einer großen Zink - oder Aluminiumkanne mittels eines Schöpflöffels, der so groß war, wie ein Kinderkopf, in eine Porzellankanne füllte, hier ein Pfund Mehl von " Aurora " mit dem Sonnenstern, dass als Markenartikel gehandelt wurde und weit über 1,20 DM kostete. Es waren eben nur Kleinigkeiten,denn die Preise bei " Fritze " waren gesalzen. Sie waren in Relation zu der sehr,sehr kleinen Rente meiner Großeltern und dem mickrigen Verdiensten meiner Eltern, so hoch,dass viele Waren, die " Fritze " mit sich herum fuhr, von ihnen niemals gekauft wurden.

Der Durchschnittslohn eines Maurers lag in den 60er Jahren bei 3,40 DM brutto im Jahre 1963 und stieg im folgenden Jahr auf 3,57 sowie im Jahre 1965 auf 3,74 je Stunde.

Auch die anderen Nachbarn in der Feldstraße kauften eher selten in dem rollenden Laden von " Fritze " ein. Es waren denn eher die älteren Leute, die Rentner, die die Wege bis in die Lebensmittelläden im Ort als zu beschwerlich sahen und deshalb auf den läutenden " Fritze " warteten. Ich erinnere mich immer noch an die schaumburger Platt sprechende Nachbarin im übernächsten Haus, die in dem immer gleich währenden Singsang den Kaufmann in seinem Tempo befragte:
" Fritz, hast'e Botder bie de, hast'e Melk bie de, hast'e Ejer bie de? "
Herrlich! Wir Kinder amüsierten uns über die Einfältigkeit dieser Frau, die es im Leben jedoch nie leicht hatte,zumal ihr Mann schon während des Tages bei der Arbeit als Beamter im Bauamt ordentlich dem Alkohol zusprach.

Es waren jene kleinen Episoden, jene eher Belanglosigkeiten und jene menschlichen Schwächen, die bei solchen Gelegenheiten zu Tage traten, die über die Überschaubarkeit des einstigen Landlebens, des Provinzalltags in der niedersächsischen Pampa Aufschluss geben konnten. Es waren eingeschliffene Rituale, die das Leben der dortigen Menschen kennzeichneten. Das  Dasein in den Nachkriegsjahren, der Ära des deutschen Wirtschaftswunders und des folgenden Wohlstands war spießig. Es war ein Spiegelbild des westdeutschen Staates und seinen Befindlichkeiten in jenen 15 bis 25 Jahre nach dem verlorenen II.Weltkrieg. Wohlstand für Alle? Eine lächerliche CDU-Polit-Propaganda-Metapher; ohne Inhalt und ohne ein Körnchen Wahrheit.

Während die wenigen Reklame-Spots in den frühen Abendstunden des Werktages,vom Ersten Deutschen Fernsehen damals zunächst in schwarz-weiß ausgestrahlt, dennoch eine bunte Luxuswelt suggerieren sollten, forderte der graue Alltag von den meisten Familien nur Entbehrungen. Markenartikel oder Markenwaren, die zudem allesamt Preis gebunden waren, konnte sich eine fünfköpfige Arbeiterfamilie eh nicht leisten. Ob dieses nun Lebensmittel, wie Schokolade aus dem Hause " Lindt ", Konserven vom Hertsteller " Libbys " oder Bohnenkaffee der Marken " Eduscho ", " Ronning " oder " Onko ", sie alle waren unerschwinglich und wurden nur zu ganz bestimmten Anlässen, wie Weihnachten, Geburtstag oder den Pflichtbesuch von Verwandten gekauft. Und wenn, dann nicht in dem rollenden Geschäft von " Fritze ".

Der erwarb dann ab Mitte der 60er einen nagelneuen Verkaufswagen, den er stolz durch die Orte fuhr. Ich meine mich daran zu erinnern,dass es ein Hanomag war. Immerhin kutschierte er das Vehikel noch einige Jahre durch die Ortschaften,ehe er den rollenden Verkauf aufgab. Die Zeiten hatten sich geändert. Die Mobilität schritt rasant voran. Mit ihr wuchsen die ersten Supermärkte, die SB-Läden und Discounter heran. Kleinere Geschäfte - zumindest in der Provinz -, die jedoch ein breiteres Warenangebot bereit stellten. Großpackungen waren gefragt, Es gab dann in den Städten die Cash&Carry -Märkte nach US-Vorbild, die zwar eine Einkaufsberechtigungskarte verlangten,welche jedoch unter der Hand weiter geleitet wurde. Überwiegend von Bekannten meiner Eltern. Auch wenn es nur einige Pfennige, einige Groschen oder unter dem Strich vielleicht 10 Mark an Ersparnis ausmachte, die C & C-Schuppen waren wesentlich billiger als die normalen Fachgeschäfte. Irgendwann in den 70er gab dann " Fritze " sein Geschäft, dass er zusammen mit seinem Bruder betrieb, auf. An seine Stelle trat dessen Sohn, der Neffe von " Fritze ". Längst in das Rentenalter gekommen, verschwand "Fritze" aus meinem Sichtfeld. Die Jahre rauschten vorbei, ehe ich eines Tages bei einem Besuch meiner Eltern in Bremen erfuhr,dass "Fritze" im sturz trunkenen Zustand in einem Etablissement an der B 65 kurz vor Bückeburg von zwielichtigen Gestalten erschlagen worden sei.

" Fritze " verließ diese Welt, so wie er sie über ein Vierteljahrhundert sehen musste, aus der   Perspektive eines dann doch Gescheiterten, der weder den Wohlstand für Alle, noch die WiWu-Jahre oder das Große Geld je erleben durfte. Sein bescheidenes Dasein im Deutschland der Nachkriegsjahre bestand darin,den Dörflern in einem rumpelnden Verkaufswagen von Montag bis Samstag Lebensmittel zum Kauf zu offerieren. Nicht mehr und nicht weniger besser erging es in jener Zeit vielen tausend " Fritzes " in Westdeutschland. Sie verschwanden irgendwann auf Nimmerwiedersehen von der Bildfläche, ohne großes Tamtam, ohne viel Geschrei und Demonstration für den Erhalt dieser Arbeitsplätze. Marktwirtschaft bedeutet vor allem auch, Marktverdrängung. Was überaltert und sich schwach zeigt, wird ausgesondert und auf den Müllhaufen der Geschichte transportiert.
Was bleibt, sind Erinnerungen an die 60er; an die piefig-miefigen Lebensinhalte der Generationen vor mir und auch an wunderbare Anekdoten, wie jene von dem rollenden Händler " Fritze ".

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