" Sitz gerade am Tisch! ", " Mach dir die Fingernägel sauber! ", " Kinder halten den Mund, wenn Erwachsene sprechen!"


Als ich vor einigen Tagen das bestellte Buch von Peter Wensierski: " Schläge im Namen des Herren " erhielt, war mir nicht sofort klar, dass meine eigene Kindheit urplötzlich wieder lebendig werden würde. Allein das Lesen der ersten Seiten brachten jene Zeit zurück, die mir in gewisser Weise immer noch präsent erscheint. Präsent deshalb, weil ich aus den unzähligen Meldungen über Kindesmisshandlung, Kindesmißbrauch und Kindstötungen erkenne, dass sich das Rad der Geschichte offensichtlich zurück zu drehen scheint. Zurück in jene bleiernen Zeiten, die nach dem Krieg, der Gründung der BRD und mit dem westdeutschen Wirtschaftswunder ihren Anfang nahm und mit der sozial-liberalen Koalition unter dem Bundeskanzler Willy Brandt ihr Ende fand.
Wer jenen Jahrgängen nach 1945 angehört, wer in den 1950er geboren oder bis Ende 1960er seine Kindheit verlebt, der kennt jene gesellschaftlichen Zwänge, jene Unterdrückungsstrukturen und Mechanismen von häuslicher Gewalt, die für Kinder, Jugendliche und Heranwachsene all gegenwärtig waren.

Wenn Peter Wensierski in seinem Buch behauptet, dass die Nachkriegsjahre der Adenauer -, Erhard - und Kiesinger - Regentschaft jenen Mief, jenen Muff und jene Bigotterie hervor brachten, unter denen vor allem die Nachkriegskinder zu leiden hatten, die Kinder also, deren Vorhandensein eher ertragen, geduldet, besten falls zur Kenntnis genommen wurde,dann hat er mit seiner These recht. Recht insbesondere deshalb, weil die Eltern dieser Kinder ihren zerplatzten Traum vom Tausendjährigen Reich, von der Herrschaft der Herrenrasse, von der all umfassenden Überlegenheit des Deutschen Volkes, auf brutale Art erleben mussten. Selbst der Kindheit beraubt, selbst unter lebensgefährlichen Bedingungen groß geworden und den täglichen Nahrungsmangel hinnehmend, haben sie dann Kinder gezeugt, die sie eigentlich überhaupt nicht wollten. Die sie zum überwiegenden Teil ablehnten und deren Erziehung sie gleichermaßen in die Hände der Großeltern legten.

Der Nachkriegsdeutsche war zunächst einmal bemüht seinen Trümmerhaufen zu beseitigen, dann folgte die Pseudo-Entnazifizierung, später der Wettlauf um Geld und materielle Werte. In diesem Lebensgefüge hatten Kinder keinen Platz. Sie störten und mussten nicht nur versorgt werden. Die Schule stellte immer höhere Anforderungen. Das Lebensumfeld veränderte sich alsbald in dramatischer Weise. Einflüsse aus dem anglo-amerikanischen Raum durch Mode, Musik und Materialismus hielten Einzug. Obwohl die im Nationalsozialismus glorifizierten - angeblichen - deutschen Tugenden, wie Fleiß, Ordnung, Pünktlichkeit - mittels Rohrstocks - in die Leiber der eigenen Kinder geprügelt wurden, zeigten diese sich aufmüpfig.

Es wurden unangenehme Fragen nach der ausgeblendeten Vergangenheit gestellt, die jedoch immer noch gegenwärtig war, es wurden die Autoritäten in Frage gestellt, es wurden eigene Lebensinhalte gesucht und gefunden. Dieser zart einwehende Zeitgeist musste von den Herrschenden und ihren Institutionen unterdrückt werden. Hand in Hand gingen dabei die drei (Volks)-Gewalten systematisch vor, flankiert von den obrigkeitshörigen Eltern, den Schulen und insbesondere den Amtskirchen. Wer nicht parierte, aufmuckte, sich widerborstig gab, dem drohte das " Erziehungsheim ". Oft waren es nichtige Anlässe, die einem Kind viele Jahre Gefängnis, Fronarbeit und Prügelorgien bescherten. Hierüber ist auch in dem Buch von Peter Wensierski vielfach die Rede. Er skizziert exemplarisch die Schicksale einzelner Zöglinge, die in eine der Verwahrungs - und Besserungsanstalten eingeliefert wurden, um dort durch die Hölle zu gehen, obwohl Jesus Christus in Person der dortigen Kleriker und ihres Hilfspersonals Tag und Nacht die Wacht hielten.

Willfährige Mitarbeiter der staatlichen Fürsorge, faschistoide Richter und frömmelnde Nachbarn waren das Dreigestirn, dass hierfür verantwortlich war. Es wurde, unter Zuhilfenahme eines Menschen verachtenen Vokabulars - von den umfassenden Möglichkeiten der repressiven Staatsorgane nachhaltig Gebrauch gemacht. Wegschließen, Wegsperren, Wegwerfen! All jene inder und Jugendlichen, die nicht dem " Normalbild " der guten deutschen Familie entsprachen mussten aus dem Umfeld jener Spießbürger verschwinden. Die Amtskirchen spielten hierbei eine besonders perfide Rolle, denn sie unterhielten mehrheitlich jene Arbeitslager, Strafeinrichtungen und Züchtigungsstätten, die pseudo-christliches Gedankengut vermittelten und die auf die Einhaltung eines bereits überholten Weltbildes pochten. Dieses Gedankengut wurde den Zöglingen eingebleut, eingeschärft, eingeprügelt. Das Sanktionssystem war feingliederig, versehen mit drastischen Steigerungen bei der Strafschärfung bishin zur Isolationsfolter.

Während in diesen von christlichen Gesetzesbrechern die Menschenrechte mit den Stiefeln getreten wurden, obwohl diese seit Mai 1949 für Jederman gelten, sah die Realität in den angeblich so freien deutschen Staat unter alliierter Kontrolle auch nicht viel besser aus.

In vielen Elternhäusern herrschte ein System der Unterdrückung, es wurde Zucht und Ordnung gepredigt und Zuwiderhandlungen mit Prügelorgien sanktioniert. Die Kriegsgeneration hasste ihre eigenen Kinde dafür, dass diese in ihnen vorgegaukelter Freiheit leben durften, ohne Krieg, Nationalsozialismus und Hunger. Wegen dieses Neides schlug so mancher Vater, so manche Mutter ihr eigenes Kind grün und blau. Die rabiaten Erziehungsmethoden herrschten aber nicht nur in den Elternhäusern. Auch in den Schulen wurde geprügelt. Erwachsene durften auch fremde Kinder züchtigen, wenn diese sich nicht artig zeigten. Wer in einem bereits überfüllten Bus, einem Zug oder in der Bahnhofshalle einen Erwachsenen anrempelte, der kriegte sofort " Eine geschallert ". Wer nicht sofort aufstand, wenn ein Erwachsener einen Sitzplatz für sich beanspruchte, wurde unverzüglich gerüffelt. Wer in der Schule unartig war, seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte oder Widerworte gab, der musste Nachsitzen, Strafarbeiten ableisten oder der bekam eine knallende Ohrfeige, so dass das Trommelfell riss.

Faschistoide Erziehungsmethoden gab es aber auch in den so genannten Erholungs - und Kinderheimen, in die jene Aspiranten verschickt wurden, die körperlich schwächelten, irgend welche chronischen Krankheiten zeigten oder in sonstiger Weise verhaltensauffällig waren.

Als ich 1963 für sechs Wochen in ein solches Erholungsheim der AOK auf die Insel Norderney verschickt wurde, wusste ich nicht, was mich da erwartete. An Prügelstrafen war ich längst gewöhnt, dass Kinder nichts zu sagen hatten, dass kannte ich auch, dass es jedoch neben miesen, billigen Essen, verordneter Freizeit, auch noch Prügel für das Vergessen eines Handtuchs, das Nichtaufessen eines Brots oder das Nichtzubinden der Schnürsenkel gab, das war mir vollkommen neu.

Das Erholungsheim, in dem ich mich mit anderen Kindern einem strengen Regiment von angelernten und ungelernten Erzieherinnen zu unterwerfen hatte, machte von außen eigentlich keine Eindruck, dass hinter den Mauern die Menschenwürde mit Fäusten bearbeitet wurde. Ein schlagendes Argument war - wie immer in dieser Zeit - das Zuspätkommen. Auch das Reden beim Essen wurde mit einer Ohrfeige geahndet. Ein Streit zwischen zwei Kindern führte unweigerlich zu Hausarrest, Strafarbeiten in der Küche oder zu Ohrfeigen.

Das Essen war eine Katastrophe. Zum Frühstück standen zwei riesige Aluminiumtöpfe mit Haferschleim auf dem Tisch. Dazu bekam jedes Kind zwei viel zu dick geschnittene Schwarzbrotscheiben auf denen sich dünn bestrichen eine Margarineschicht mit Quittenmarmelade befanden. Selbst wenn ich großen Appetit gehabt hätte, diese Monsterscheiben waren nicht vollständig aufzuessen. Ich versteckte deshalb eine Hälfte unter den Tisch in einer dort angebrachten Ablage. Eine Mitarbeiterin sah dieses und nahm die halbe Brotscheibe in ihre Hand, von wo sie mir in den Mund gestopft wurde.

Mittags gab es neben den Eintopfgerichten, wie Erbsensuppe, eine Pampe aus Sago, Wasser und Holunderbeeren oder Kirschen. Fleisch stand natürlich sehr selten auf dem Speiseplan; allenfalls wurden manchmal zwei kleine Bockwürste mit schmierigen Kartoffelsalat hingestellt. Der obligatorische Spinat und ein fettiges Stück Leberkäse durfte natürlich auch nicht fehlen.
Regelmäßig standen mehrere riesige Kannen mit kaltem Tee, den es bereits zuvor in heißem Zustand zum Frühstück gab, auf den Tischen. Der viel zu süße Hagebutten - oder Pfefferminztee sonderte bereits um 7.00 Uhr zum Frühstück einen derart penetranten Geruch ab, dass in mir Würgegefühle hoch stiegen. Ich hätte auf der Stelle erbrochen,wenn da die Angst vor den Schlägen der Heimmitarbeiterinnen nicht gewesen wäre.

Das Abendessen bestand aus einer Scheibe Grau - und einer Scheibe Schwarzbrot die mit Käse und Billigwurst belegt waren. Statt dem stinkenden Tee wurde Wasser oder mit Wasser versetzter Limonadenextrakt hingestellt.
Das Abendessen begann um 18.00 Uhr. Pünktlich ab 18.30 Uhr wurde wieder abgeräumt. Anschließend sprach die Heimleiterin noch einige Sätze zu dem abgelaufenen Tag und der Planung für den bevorstehenden, ehe es dann um 19.00 Uhr in den Waschraum unter die Duschen ging.

Wegen der Vielzahl der Kinder mussten die Gruppen wechselweise die Gemeinschaftwaschbecken mit nur kaltem Wasser oder am folgenden Tag die Duschen nutzen. Beim Waschen mussten sich alle Kinder bis auf die Unterhose ausziehen; das Duschen erfolgte natürlich nackt, wobei einige Kinder, die sich dabei eher ungeschickt verhielten mit einer Wurzelbürste von den Mitarbeiterinnen abgeschrubbt wurden. Obwohl die Zeit von Bigotterie und Prüderie gekennzeichnet war, legten die Mitarbeiterinnen hier keinerlei Schamgefühle an den Tag.

Jeder Tag war bestimmt durch Drill, Befehl und Gehorsam. Alle Aktivitäten erfolgten nur in Gruppen, die sich zuvor, wie beim Militär, in Reih'und Glied aufzustellen hatten. Ausflüge und Wanderungen sowie Gänge zum Schwimmen wurden in Formationen durchgeführt. Der post-faschistische Erziehungsstil blieb auch hier deutlich erkennbar.

Als ich nach sechs Wochen Heimaufenthalt zurück fuhr, begann am nächsten Tag die Schule, denn die Sommerferien waren zu Ende. Ich hatte weder zugenommen, noch war eine Veränderung in meinem Essverhalten ersichtlich, auch mein gehemmtes Verhalten in der Schule hatte sich gelegt. Stattdessen liefen mir die Freudentränen die Wangen herunter, als ich endlich meine vertraute Umgebung und das Schulgebäude sehen durfte.

Jene schlimmen Erlebnisse aus dem AOK- Kindererholungsheim auf Norderney haben sich bis heute bei mir eingeprägt, weshalb mir die in dem Buch von Peter Wensierski geschilderten Zustände in den kirchlichen Verwahrungsanstalten der 1950er bis 1970er Jahre sehr nahe gehen. Jene Aufbau - und " Wirtschaftswunderjahre " sind somit ein Synonym für einen Zeitgeist, der geprägt war von klerikalen Denkstrukturen und Unterwürfigkeitsmechanismen. Die Gesellschaft war klar in Kategorien aufgeteilt, die durch den sozialen Besitz - und Bildungsstand definiert waren. Als Kind eines Arbeiterehepaars war ich dazu abgestempelt, nach der Volksschule und einer Lehre durch den Kriegsdienst gedrillt, zur Produktivität des kapitalistischen Systems beizutragen. Der wesentliche Vorteil in meiner Kinder - und Jugendzeit lag darin, dass sich meine Eltern weitesgehend gesellschaftskonform verhielten und damit dem Spitzeln und Denunzianten in der Nachbarschaft, der Schule sowie den Behörden und Ämtern keinen Anlass gaben, einen Heimaufenthalt anzuordnen.

Dennoch verblieben über viele Jahre die Auswirkungen jener rabiaten Erziehungsmethoden auch bei mir in schlechter Erinnerung; mit der Konsequenz, dass ich mein Kind und meine Enkelkinder so niemals behandelt habe oder diese behandeln werde.

Kommentare

Minngor hat gesagt…
Guten abend. Ich habe gerade so viel um den ohren aber ich sehe dass ich sehr viel bei dier zum nachlesen habe. Grüsse aus einem sommerwarmen Stockholm.

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Was ist eigentlich aus dem Gilb geworden?